„Sexualisierte Gewalt darf in Gemeinden kein Tabuthema sein“

Kinder, Jugendliche und Erwachsene vor Übergriffen schützen, Transparenz und Vertrauen herstellen: Die Evangelische Kirche in Charlottenburg-Wilmersdorf erarbeitet für ihre Gemeinden und Einrichtungen ein Schutzkonzept vor sexualisierter Gewalt. Im Interview sprechen die Pfarrerinnen Bettina Schwietering-Evers und Solveig Enk aus der Arbeitsgruppe über den Prozess.

'Sexualisierte Gewalt‘ als Begriff ist nicht genau definiert. Wo fängt sie an?

Solveig Enk: Wenn Grenzen anderer verletzt werden. Das geht mit Kindern los, die getätschelt werden, obwohl sie es nicht möchten. Mit einem anzüglichen Witz und dem entsprechenden Blick, wenn man allein mit jemandem im Raum ist. Oder mit Kollegen, die einen umarmen, obwohl man signalisiert, dass man das nicht mag. Natürlich gibt es Abstufungen zwischen Grenzverletzungen, die oft unbeabsichtigt geschehen, sexuellen Übergriffen und sexualisierter Gewalt, die strafrechtlich relevant ist. Diese Unterschiede muss man kennen, um richtig reagieren zu können.

Was der Eine als Witz versteht, empfindet ein anderer als Grenzüberschreitung. Wie soll man das regeln?

Bettina Schwietering-Evers: Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass Menschen Situationen unterschiedlich empfinden. Unsere Arbeitsgruppe ist breit aufgestellt, um viele Perspektiven einzubringen: die der Kirchenmusiker, der Mitarbeitenden aus der Arbeit mit Kindern und anderer Arbeitsfelder. Ziel ist, unsere Haupt- und Ehrenamtlichen zu schulen, sensibel für bestimmte Situationen zu sein. Das heißt nicht, dass sie jeden ermahnen sollen, der mal einen derben Witz reißt – wir sind ja keine Sittenpolizei. Aber sie sollen reagieren können, wenn sich jemand in so einem Moment offensichtlich unwohl oder verletzt fühlt.

Enk: In der Jugendleiterausbildung sind solche Schulungen schon erfolgreich. Mit den Jugendlichen sprechen wir darüber, wie wir miteinander umgehen, wo persönliche Grenzen sind und wie man sie kommuniziert.

Sind es auch Kinder und Jugendliche, die am häufigsten von sexualisierter Gewalt betroffen sind?

Enk: Wenn etwas passiert, hat es oft mit einem Machtgefälle zu tun. Kinder können sich nicht gut wehren, das ist für Täter*innen leichter. Aber es trifft auch Erwachsene: Zum Beispiel sind verbale Ausrutscher, die sich junge Frauen manchmal von älteren Kollegen anhören müssen, Zeichen dieser Macht. Und immer wieder hört man, dass Seniorinnen und Senioren, die auf Hilfe angewiesen sind, Übergriffe erleben.

Die Statistik besagt: Viele Täter*innen sind Familienangehörige. In 57 Prozent der Fälle sexualisierter Gewalt stammen sie aber aus dem weiteren nahen Umfeld des Opfers, also Vereinen oder dem Freundeskreis. Welche Situationen nutzen sie aus?

Enk: Ganz alltägliche. Oft sind es Menschen, die bewusst in gemeinnützigen Organisationen tätig werden und die Nähe zu Kindern und Jugendlichen suchen. Ohne dass hier ein Generalverdacht entstehen soll, kann man festhalten: Sie sind nett und tatkräftig. Niemand wundert sich, wenn sie viel im Haus sind oder mit dem eigenen Auto noch Kinder nach Hause fahren – weil sie so engagiert sind. Das macht es schwer, gegen sie vorzugehen. Auch der Vertrauensvorschuss der Eltern hilft ihnen: Wenn Missbrauch geschieht, wird den Opfern manchmal nicht geglaubt, denn „der oder die macht sowas doch nicht“.

Angesichts der Vielzahl aufgedeckter Missbrauchsfälle vor allem in der Katholischen Kirche fragen sich viele Menschen: Wieso kam das EKBO-Kirchengesetz zum Schutz vor sexuellem Missbrauch, das Schutzkonzepte vorsieht, erst Ende 2020? Auch andere Landeskirchen haben erst in den vergangenen Jahren reagiert.

Schwietering-Evers: Es fiel uns als Kirche offenbar lange schwer, zu sagen: Wir haben uns Nächstenliebe, Wahrhaftigkeit und Transparenz zwar auf die Fahnen geschrieben, aber als Institution nicht immer danach gehandelt.

Enk: Wenn unsere Kirchen geschützte Orte sein sollen, müssen wir nicht nur alte Missbrauchsfälle lückenlos aufklären, sondern präventiv und offensiv gegen sexualisierte Gewalt vorgehen. Jeder soll sehen, dass es in unseren Gemeinden kein Tabuthema ist und wir achtsam miteinander umgehen.

Wird das Schutzkonzept spezifisch auf jede Gemeinde zugeschnitten sein?

Schwietering-Evers: Ja. Es wird eine Risikoanalyse per Fragebogen geben. Das heißt, dass wir schauen: Welche Räumlichkeiten gibt es, wie wird kommuniziert, wer hat einen Generalschlüssel? Wann gibt es Vier-Augen-Gespräche – vorwiegend abends, wenn niemand mehr im Haus ist oder tagsüber? Gibt es Dienstpläne, aus denen hervorgeht, wer wann welche Räume nutzt?

Im Chor, in Kindertagesstätten und einigen anderen Arbeitsfeldern ist körperliche Nähe unvermeidbar.

Schwietering-Evers: Das ist auch der Grund, weshalb es keinen starren Handlungskatalog mit Regeln wie „Keine Menschen anfassen“ oder „Nie zu zweit in einem Raum sein“ geben wird. Wir arbeiten an einem Grundvertrauen und einer offenen Kommunikation. Bleiben wir beim Beispiel Chor: Wenn ich jemandem bei einer Atemübung die Hand auf den Rücken legen möchte, kündige ich es an und bitte vorher um Erlaubnis.

Enk: Nähe wird möglich, wenn unser Handeln transparent ist: In der Kirche gibt es abends eine Privat-Orgelstunde oder ein Beratungsgespräch? Dann steht das im einsehbaren Dienstplan. Auch die erweiterten Führungszeugnisse haben wir im Blick.

Die Arbeitsgruppe besteht ausschließlich aus hauptamtlichen Mitarbeitenden. Wie stellen Sie sicher, dass die Sicht der vielen Ehrenamtlichen mit einfließt?

Enk: Die Schulung unserer Arbeitsgruppe hat sieben volle Tage gedauert. Wir hatten Scheu, Ehrenamtlichen so viel Zeit abzuverlangen. Wenn wir den Entwurf des Schutzkonzepts in den Gemeinden besprechen, werden wir auch ihre Meinung einholen: Wo haben wir etwas nicht bedacht? Was ist praktikabel?

Enk: Wir gehen in die Gemeinden und bieten Basisschulungen an. So schaffen wir erst einmal ein Bewusstsein, weshalb das Thema wichtig ist. In der Umsetzung begleiten wir die Gemeinden mit einem Fragebogen zur Risikoanalyse und unterstützen sie, wenn sie konkrete Handlungspläne ausarbeiten. Im Kirchenkreis soll es außerdem eine feste Ansprechperson zum Thema geben, an die sich Menschen wenden können.

Schwietering-Evers: Es gibt eine Plattform der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in der wir als Arbeitsgruppe eingetragen sind. Dort stellen wir jeden Arbeitsschritt im Zusammenhang mit dem Schutzkonzept ein. So wird transparent, dass es nicht nur auf dem Papier besteht, sondern aktiv umgesetzt wird.

Interview: Juliane Kaelberlah